So jetzt aber! Nach einer kleinen Auszeit geht es weiter mit unserem Buchtipp #113.
»Der Zug der Waisen« beleuchtet ein vergessenes Kapitel US-amerikanischer Geschichte, ein unrühmliches noch dazu. Vielleicht habe ich deshalb so lange gebraucht, das Buch zu lesen, von unrühmlichen Geschichten und Nachrichten aus den USA habe ich gerade genug.
Aber natürlich darf man das nicht in einen Topf werfen und wenn man mal von meinen persönlichen Antipathien absieht, hat Autorin Christina Baker Kline ein berührendes Buch geschrieben, in dem sie einen eher unbekannten Teil amerikanischer Geschichte aufgearbeitet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat.
Der »Zug der Waisen« hat zwischen 1854 und 1929 mehr als 200.000 verwaiste und heimatlose Kinder von der Ostküste bis in den Mittleren Westen befördert, wo sie dann zur Adoption freigegeben wurden. Unter dem Deckmantel der Barmherzigkeit und Nächstenliebe hat die Children’s Aid Society versucht, verwaisten Straßenkindern aus New York, viele von ihnen Einwanderer der ersten Generation aus Irland, Italien und Polen, ein neues Zuhause zu bieten. In der ländlichen Idylle im mittleren Westen der USA glaubte man, dass die verarmten und verlassenden Kinder zu glücklichen, »rechtschaffenen« Menschen heranwachsen und nicht nur ein Leben an frischer Luft, sondern auch gute Schulbildung, eine christliche Erziehung und die Zuneigung einer neuen Familie erhalten. Das Gegenteil war oft der Fall. Die Kinder wurden als billige Arbeitskräfte gehandelt, viele wurden geschlagen, missbraucht und von einer Familie zur nächsten weitergereicht. Wenige dieser »Trainriders«, dieser Kinder aus dem Waisenzug haben später versucht, ihre wahre Identität und ihre kulturellen Wurzeln herauszufinden. Ihre Aufzeichnungen und Erzählungen hat die Autorin gesammelt und daraus eine mitreißende, fiktive Geschichte geschrieben.
Das Schicksal der 9-jährigen Niamh aus Irland, die nach der Immigration in die USA ihre gesamte Familie verliert und als Waise von einer Familie zur nächsten geschickt wird, ist absolut lesenswert und bekommt von uns 3 Thumbs up!
Der Zug der Waisen von Christina Baker Kline.
Genre: Belletristik/ Roman aus dem Amerikanischen von Anne Fröhlich
Verlag: Goldmann, München
Seiten: 352
Bookcub-Rating: 3 Thumbs up!
Und wer mehr wissen will:
New York 1929, wie so viele irische Einwandererfamilien hofft auch die Familie der 9-jährigen Niamh auf einen Neuanfang in den vereinigten Staaten von Amerika, doch dann zerstört ein Wohnungsbrand alle Hoffnungen und Träume. Das kleine Mädchen bleibt alleine zurück und wird in einem sogenannten »Orphan Train« nach Minnesota geschickt, wo man ihr eine nette Familie und ein liebevolles Zuhause verspricht. Doch was sie erwartet, ist alles andere als Fürsorge, eine angemessene Versorgung oder auch nur ein kleines bisschen Liebe. Auf das ohnehin schon traumatisierte Mädchen warten harte, entbehrungsreiche Jahre.
Erst Jahrzehnte später, als über 90-Jährige kann sie ihre Geschichte erzählen. Die überraschende Freundschaft zu der 17-Jährigen rebellischen Molly, die selbst auf eine wenig glückliche Kindheit in unterschiedlichen Pflegefamilien zurückblickt, hilft der alten Frau, sich zu öffnen und ihre Vergangenheit zu verarbeiten.
Bea aus unserem Bookclub hat der Roman sehr gut gefallen: »Ein Buch, das einen zum Nachdenken bringt, ein furchtbar trauriger Teil amerikanischer Geschichte, von dem ich bisher noch nie gehört habe. Die Geschichte hat mich berührt und an die Gegenwart erinnert. Geschichte wiederholt sich, auch wenn wir es besser wissen müssten. Was soll aus diesen traumatisierten Kindern werden, wenn wir sie nicht herzlich aufnehmen? Dieser Roman war nicht nur ein interessanter Geschichtskurs für mich, sondern gleichzeitig auch eine Ermahnung.«
Und Katrin sagt: »Als ich den Klappentext gelesen habe, war ich zwar interessiert, hatte aber befürchtet, dass es sich hier um eine kitschige Aschenputtelgeschichte handelt. Doch der Roman war zu Recht lange auf der New York Times Bestsellerliste. Die Autorin hat es geschafft, eine emotionale, aber keineswegs kitschige Story zu schreiben, mit einem versöhnlichen Ende, aber keineswegs einem »Happy End« à la Hollywood. Empfehlenswert!«
Johanna war leider nicht hundertprozentig begeistert von der Lektüre. »Ich kann nicht genau sagen, was, aber irgendetwas hat mir in diesem Roman gefehlt. Vielleicht war es die Auflösung und das Ende, vielleicht habe ich nach so viel Entbehrungen und Herzschmerz in der Kindheit der beiden Protagonistinnen einfach mehr erwartet, ein fulminantes, ein großes und schönes Ende.«
Für den Roman hat Christina Baker Kline ausgiebig recherchiert und es ist ihr gelungen, eine emotionale Geschichte zu schreiben, die berührt, ohne auch nur ansatzweise kitschig zu wirken. Die Freundschaft der beiden Frauen, der 91-jährigen Niamh, später Vivian genannt und der aufsässigen Molly, deren beider Leben durchaus Parallelen aufweisen, hat mir am besten gefallen. Diese vorsichtige Annäherung von zwei Menschen, die in ihrem Leben immer wieder um ihre Gefühle betrogen wurden, hat die Autorin bewusst zurückhaltend interpretiert und so passt meiner Meinung nach auch das eher zurückhaltende Ende.
Auf Gefühlsduselei wird verzichtet, allein die klare Beschreibung hat gereicht, um mich zu Tränen zu rühren.
Ein Roman, der berührt und gleichzeitig aufrüttelt, denn Waisenkinder gibt es auch heute und verlassene und traumatisierte Kinder brauchen auch heute unsere Hilfe.
Viel Spaß beim Lesen und Euch eine wunderschöne Woche,
XXX Michaela